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Die Chronifizierung von Schmerzen verhindern
04.04.2025 Chronische Schmerzen bedeuten für Betroffene oft langanhaltendes Leiden und Einschränkungen im Alltag. Das Forschungsprojekt PrePaC setzt frühzeitig an, um eine Chronifizierung zu verhindern – mit interdisziplinärer Zusammenarbeit und Aufklärung von Fachpersonen und Patient*innen.
Das Wichtigste in Kürze
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Frühe Prävention: Das Projekt PrePaC will chronische Schmerzen durch gezielte Massnahmen verhindern.
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Psychosoziale Faktoren werden stärker in die Schmerztherapie integriert.
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Interdisziplinäre Versorgung: Medizin, Physiotherapie und Sozialarbeit arbeiten im Projekt eng zusammen.

Chronische Schmerzen – also Schmerzen, die länger als drei Monate andauern oder wiederkehrend auftreten – betreffen in der Schweiz schätzungsweise 1,5 Millionen Menschen und gehören zu den am weitesten verbreiteten nichtübertragbaren Krankheiten. Die aktuellen jährlichen volkswirtschaftlichen Kosten sind nicht bekannt, werden aber auf 4,3 bis 5,8 Milliarden Franken geschätzt. Alarmierend ist das Vorkommen von chronischen Schmerzen besonders auch bei Kindern und Jugendlichen. Gemäss Obsan-Bericht des BAG litten im Jahr 2022 34,9 Prozent der 11- bis 15-Jährigen in der Schweiz innert sechs Monaten mehrmals pro Woche an Kopf-, Rücken- oder Bauchschmerzen. Im Vergleich zum Jahr 2018 ist diese Zahl um 14,4 Prozent gestiegen. Neben den sozioökonomischen Auswirkungen sind chronische Schmerzen vor allem für die Betroffenen und ihr Umfeld belastend und bedeuten langanhaltendes Leiden und Einschränkungen im Alltag.
«Chronischer Schmerz entsteht durch Mechanismen im zentralen Nervensystem, die durch Ängste, Stress oder Schlafstörungen verstärkt werden. Der Einbezug sozialer Faktoren in die Prävention wurde bisher vernachlässigt.»
Gezielte Prävention als Schlüssel
Internationale Studien zeigen, dass viele Menschen mit akuten Schmerzen später chronische Schmerzsyndrome entwickeln. Hier setzt das Forschungsprojekt PrePaC (Prevention of Pain Chronification) an, das vom Universitären Schmerzzentrum des Inselspitals Bern unter Mitwirkung der Berner Fachhochschule (BFH) und der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) geleitet wird. Ziel ist es, Risikopatient*innen besser zu identifizieren und gezielte präventive Massnahmen anzubieten. Prof. Dr. med. Konrad Streitberger, Leiter des Schmerzzentrums und Projektleiter von PrePaC, erklärt: «Chronischer Schmerz entsteht durch Mechanismen im zentralen Nervensystem, die durch Ängste, Stress oder Schlafstörungen verstärkt werden. Der Einbezug sozialer Faktoren in die Prävention wurde bisher vernachlässigt. PrePaC setzt deshalb auch auf die frühzeitige Integration von Sozialarbeitenden.»
Frühzeitige Hilfe – ein Praxisbeispiel
Streitberger betont die Bedeutung der koordinierten und vernetzten Versorgung: «Wenn sich Patient*innen im Gesundheitssystem verloren fühlen und von einer Anlaufstelle zur nächsten geschickt werden, kann das die Chronifizierung der Schmerzen begünstigen.» Im Teilprojekt Gesundheitspfad wird die interdisziplinäre Zusammenarbeit konkret umgesetzt. Hier werden Patient*innen mit akuten Schmerzen nicht nur medizinisch und physiotherapeutisch betreut, sondern es wird auch nach psychosozialen Belastungsfaktoren gefragt. «Ein Patient kam mit akuten Rückenschmerzen in unsere Notaufnahme», schildert Streitberger. «Nach der Untersuchung war klar, dass keine Operation nötig ist. Bei der Erhebung der psychsozialen Faktoren stellten wir fest, dass ihn seine unsichere Arbeitssituation stark belastete. Durch die Einbindung unserer Sozialarbeitenden konnten wir ihn gezielt unterstützen und in den Arbeitsprozess zurückführen.» Auch Ärzt*innen profitieren von der Einbindung sozialer Fackräfte: «Oft müssen wir uns zu fachfremden Themen wie IV-Rente oder Versicherungen äussern. Mit solchen Fragen sind die Patient*innen bei Sozialarbeitenden besser aufgehoben.»
«Es wird operiert und Opioide werden verschrieben, weil man nicht weiter weiss. Oft kaschieren Opioide psychosoziale Probleme, statt die Ursachen der Schmerzen zu behandeln.»
Warum multimodale Schmerztherapie nötig ist
Besonders herausfordernd ist die Behandlung von Patient*innen aus schwierigen sozialen Verhältnissen oder mit Sprachbarrieren, etwa Geflüchtete mit Traumaerfahrungen. «In solchen Fällen kann eine Operation sogar kontraproduktiv sein und ein weiteres Trauma auslösen», warnt Streitberger. «Wir müssen sensibel und interdisziplinär arbeiten, um solche Risiken zu minimieren.» Er kritisiert den häufigen ärztlichen Aktionismus bei chronischen Schmerzen. «Es wird operiert und Opioide werden verschrieben, weil man nicht weiter weiss. Oft kaschieren Opioide psychosoziale Probleme, statt die Ursachen der Schmerzen zu behandeln.» Streitberger sieht in der multimodalen Schmerztherapie einen vielversprechenden Ansatz, warnt aber vor dem Spardruck in der Schweiz. «Wir müssen weg von der isolierten Fachmedizin hin zu integrierten Behandlungswegen.»
Er fasst das oberste Ziel von PrePaC zusammen: «Wir wollen die soziale Komponente gleichberechtigt in die biopsychosoziale Behandlung integrieren und die Versorgung koordinieren. So vermeiden wir, dass Betroffene in eine Abwärtsspirale geraten, ihre Arbeit verlieren und weiter stigmatisiert werden.»
«Viele Betroffene werden im System wie ein Ping-Pong-Ball hin- und hergeschoben. Ich hatte Glück, schnell die richtige Unterstützung zu finden, aber das ist nicht selbstverständlich.»
Die Teilprojekte von PrePaC
Das Forschungsprojekt PrePac (Prevention of Pain Chronification) zielt darauf ab, die Chronifizierung von Schmerzen zu verhindern und die Lebensqualität der Betroffenen zu erhalten. Hierfür wurden vier Teilprojekte definiert. Ein fünftes, das Teilprojekt Partizipation, befasst sich mit der Perspektive von Menschen, die mit chronischen Schmerzen leben und sorgt dafür, dass ihre Erfahrung und ihr Wissen in die anderen vier Teilprojekte einfliessen.
Yasmina Weerasekara ist eine von den Expert*innen durch Erfahrung. Ursprünglich als Pflegefachperson tätig und jetzt chronisch krank, kennt sie beide Seiten und betont die Wichtigkeit für den Einbezug von Betroffenen: «Auch wenn die Empathie seitens Gesundheitsfachpersonen gross ist, kann man sich als Aussenstehende nicht vorstellen, wie einschneidend der chronische Schmerz für den Alltag und die Persönlichkeit ist und welche Hürden Betroffene überwinden müssen.»
Netzwerkaufbau:
Spezialist*innen aus verschiedenen Bereichen wie Physiotherapie, Ergotherapie, Sozialarbeit, Medizin und Psychologie sollen besser vernetzt und sichtbar gemacht werden, um Betroffenen und Fachpersonen den Zugang zu Expert*innen zu erleichtern. Weerasekara betont: «Viele Schmerzpatient*innen fühlen sich alleingelassen und wissen nicht, an wen sie sich wenden können. Ein gut funktionierendes Netzwerk kann helfen, schneller die richtige Unterstützung zu erhalten und unnötige Arztwechsel – das sogenannte Doctor Hopping – zu vermeiden.»
Gesundheitspfad:
Ein interprofessioneller Behandlungspfad für Patient*innen mit muskuloskelettalen Schmerzen in der Notfallmedizin des Inselspitals soll eine lückenlose Betreuung ermöglichen und die Chronifizierung verhindern. Weerasekara hebt hervor: «Die Patient Journey ist oft nicht geradlinig. Viele Betroffene werden im System wie ein Ping-Pong-Ball hin- und hergeschoben. Ich hatte Glück, schnell die richtige Unterstützung zu finden, aber das ist nicht selbstverständlich.»
«Schmerz ist ein multidimensionales Problem, das alle Aspekte des Lebens beeinflusst – nicht nur die körperliche, sondern auch die soziale und psychische Ebene. Fachpersonen müssen darauf vorbereitet sein.»
Qualifizierung und Schulung:
Kurse für Fachpersonen, Betroffene, Arbeitgebende und Versicherungen sollen Wissen über das biopsychosoziale Schmerzmodell, Schmerzkommunikation und den Umgang mit Schmerzen vermitteln. Laut Weerasekara ist die soziale Dimension dabei entscheidend: «Schmerz ist ein multidimensionales Problem, das alle Aspekte des Lebens beeinflusst – nicht nur die körperliche, sondern auch die soziale und psychische Ebene. Fachpersonen müssen darauf vorbereitet sein.»
Informationsplattform:
Eine Internetplattform soll qualitätsgeprüfte, verständliche Informationen zu chronischem Schmerz bereitstellen und so den Zugang zu Wissen erleichtern. Weerasekara ergänzt: «Viele Betroffene kennen ihre Rechte nicht oder haben Angst, Anträge bei der IV zu stellen. Die Unsicherheit führt oft dazu, dass sich Menschen aus Angst vor Stigmatisierung nich trauen, Hilfe zu holen.»