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«Entscheidend ist die richtige Bewegung»
13.02.2025 Sebastian Tobler ist als Tetraplegiker quasi sein eigenes Forschungsprojekt: Mit einer neuen Trainingsmethode hat er seine Lebensqualität deutlich verbessert. Nun will der Leiter des SCI Mobility Lab an der BFH-TI zusammen mit Edeny Baaklini untersuchen, ob diese neue Therapie auch bei anderen Patient*innen Wirkung zeigt. Derweil verbessert Kenneth Hunt, Leiter des rehaLab, das Leben beeinträchtigter Menschen durch das Erforschen von Gangrobotern oder der Herzfrequenz.
Im Juli 2013 reiste der damals 43-jährige Sebastian Tobler in den Semesterferien ins Trainingslager seines Clubs «La Pédale Bulloise» im Bike-Park von Plaffeien (FR). Dort fuhr der passionierte Mountainbiker mit hoher Geschwindigkeit über die Piste, bis ihn eine Bodenwelle aus dem Gleichgewicht brachte. Er wurde in die Luft geschleudert und landete kopfvoran auf dem Boden. Die erschütternde Diagnose: inkomplette Tetraplegie. Das Rückenmark wurde unterhalb des Halses verletzt, allerdings nicht vollständig durchtrennt. Einige Nervenbahnen blieben teilweise erhalten. Die Beine sind gelähmt, die Arme zum Teil noch funktionsfähig. Es war der Beginn einer eindrücklichen Reise.
Bereits eineinhalb Monate nach seinem Unfall gab der Automobilingenieur an der BFH seinen Studierenden den ersten Auftrag, für ihn ein spezielles Trainingsgerät zu entwickeln. In seinem Keller stapelten sich in den folgenden Jahren gekaufte und um- oder selbstgebaute Fitnessgeräte. Bis zu 37 Stunden pro Woche trainierte er seine Muskulatur. Bis heute hat er rund 40 Prototypen initiiert oder selbst gebaut und rund 50 Forschungsprojekte (mit)initiiert. 2016 gründete er zusammen mit einem Freund das Startup «Go By Yourself» (GBY, www.gby.swiss), das Trikes für Personen mit eingeschränkter Mobilität herstellt. Beim Trike handelt es sich um Dreiradvelo, das Tretvorrichtungen für Arme und Beine hat. Zur Unterstützung ist es mit einem Elektromotor ausgestattet. Es eignet sich für Ausflüge in die Natur und als Trainingsgerät.
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11 000 Trainingsstunden
Allerdings: Bis 2019 erzielte sein intensives Training selbst mit elektrischer Muskel- (FES) und Nervenstimulation (EES) wenig Wirkung. Also stellte er es um und erzielte damit konkrete Verbesserungen. Sebastian Tobler ist heute Leiter des SCI Mobility Lab (SCI = Spinal Cord Injury) an der BFH-TI und unterrichtet daneben Fahrzeugdesign. Er und Edeny Baaklini, ursprünglich Physiotherapeutin und heute Postdoc und wissenschaftliche Mitarbeiterin am SCI Mobility Lab, führten von 2023 bis 2024 eine Fallstudie durch: Dabei wollten sie feststellen, ob die Fortschritte der neuen Trainingsmethode wissenschaftlich reproduzierbar sind. Ihnen kam zugute, dass Sebastian Tobler alle Daten zu seinen 11 000 Trainingsstunden und zu seinen Körperfunktionen seit Beginn akribisch dokumentiert hatte. Die Fortschritte, die sie nun feststellten, sind eindrücklich: Beim Stehtest schwankte er mit der Zeit immer weniger und nahm dazu auch immer weniger seine Arme zu Hilfe. Dabei wurden Aktivitäten in Muskeln festgestellt, die er nicht willentlich anspannen kann. Beim 6-Minuten-Gehtest mithilfe eines selbstgebauten Rollators im Labor konnte er die absolvierte Distanz fast verdoppeln. Beim Gehen im Wald konnte er seine Geschwindigkeit um 44 Prozent steigern. Das Beste sei, dass er heute alleine in den Wald fahren und laufen könne, sagt Sebastian Tobler. «Das verschafft mir neue Freiheiten.» Früher sei er dabei auf Begleitung angewiesen gewesen.
«Dank meiner Methode habe ich heute keine Probleme mehr mit der Atmung»
Mit Training und medizinischem Fortschritt habe sich die Lebensqualität querschnittgelähmter Menschen in den vergangenen Jahrzehnten deutlich verbessert, fügt er hinzu. «Mit meiner Methode konnte ich meinen Blutdruck und meine Knochendichte deutlich verbessern, und ich habe heute keine Probleme mehr mit der Atmung», sagt Sebastian Tobler. Zudem habe er sein Arbeitspensum von 30 auf 50 Prozent erhöht. «Das ist für die soziale Integration von beeinträchtigen Menschen sehr wichtig.» Der Kern der gesundheitlichen Verbesserungen durch Training sei immer die richtige Art der Bewegung, ergänzt Edeny Baaklini. Zusammen mit Sebastian Tobler will sie in den nächsten vier Jahren in einer vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) unterstützten Studie untersuchen, ob die Trainingsmethode auch bei anderen Patient*innen Erfolge bringt.
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Gangroboter mit Armen
Auch Kenneth Hunt, Professor für Rehabilitation Engineering, Mechatronics and Control Engineering und Leiter des rehaLab (Laboratory for Rehabilitation Engineering) an der BFH-TI, erforscht seit Jahren Möglichkeiten zur gesundheitlichen Verbesserung beeinträchtigter Menschen. So war und ist er unter anderem an mehreren SNF-Forschungsprojekten beteiligt. In einem davon entwickeln die Forschenden in den nächsten vier Jahren einen Gangroboter mit aktiver Unterstützung für die Arme, der in der Rehabilitation von Patient*innen mit neurologischen Beeinträchtigungen eingesetzt werden soll. In der klinischen Rehabilitation wurden bisher meist Gangroboter zum Wiedererlernen des Gehens eingesetzt, die auf die Beine fokussieren und die Arme nicht berücksichtigen, obwohl diese ein wichtiger Teil des Gehens sind. «Wir untersuchen, inwieweit ein solcher neuartiger Gangroboter die Rehabilitation beschleunigen und verbessern kann», erklärt Kenneth Hunt. Dazu wird bei den Proband*innen die Veränderung der Hirndynamik und der Muskelaktivität mit und ohne Armunterstützung untersucht.
In einem weiteren SNF-Projekt wurde in den vergangenen vier Jahren unter seiner Leitung die Regelung der Herzfrequenz und deren Variabilität (Herzratenvariabilität, HRV) untersucht. Die HRV wird durch das Zusammenspiel von Sympathikus und Parasympathikus des vegetativen Nervensystems reguliert. Von einer Rückenmarksverletzung ist letzterer weniger stark betroffen, weshalb das Gleichgewicht zwischen den beiden und somit die Regelung der Herzfrequenz bei querschnittgelähmten Personen gestört ist. Das Hauptziel des Projekts war es, die HRV während Langzeitbewegungsübungen besser zu verstehen und dieses Wissen für automatische Herzratenregelungen zu verwenden. Dazu wurde die Veränderung der HRV in Abhängigkeit der Intensität und Dauer von Bewegungsübungen untersucht.
Präzise Herzratenregelsysteme sind deshalb so wichtig, weil damit Trainingseinheiten für gesunde und für Personen mit diversen Gesundheitsbeschwerden verbessert werden – und damit letztlich auch deren Lebensqualität. In einem auf weitere vier Jahre angelegten SNF-Projekt sollen nun die gewonnenen Erkenntnisse auf 48 Patient*innen angewendet werden. Dazu gehören gesunde Personen und solche mit einem unterschiedlichen Grad an Verletzungen.