Rückblick 2023: Paraplegie: Wo steht die Forschung heute?

03.11.2023 Machen wir Fortschritte in der Forschung, um Rückenmarksverletzungen zu heilen? Warum dauert es so lange, bis die Ergebnisse der Forschung in der Realität ankommen? Was bringt uns die Forschung im Alltag? Dies die Fragen, die an der Veranstaltung «Paraplegie: Wo steht die Forschung heute?» im Zentrum standen.

Hochkarätige Referent*innen gaben Einblick in ihre Forschungsarbeiten und zeigten auf, mit welchen Therapien sie Erfolge hatten. Im Publikum waren viele direkt Betroffene, aber auch Angehörige sowie Physiotherapeut*innen, Ärzt*innen oder Pflegepersonal.

«Wissen verdoppelt sich, wenn man es teilt», dies waren die einleitenden Worte von Heidi Hanselmann, Präsidentin der Schweizer Paraplegiker-Stiftung, die den von der Berner Fachhochschule organisierten Anlass unterstützte. Doch wie weit weg ist das Wissen, das in der Forschung entsteht, immer noch vom Alltag der Betroffenen? An der Tagung wurde schnell klar: Der Weg der Forschung ist lang. Die vielversprechenden Studien werden noch Jahre oder Jahrzehnte brauchen, bis sie im Klinikalltag angekommen sind. Und sie werden auch nicht bei allen Betroffenen zur Heilung führen. Auch klar wurde, dass das Ziel, wieder zu gehen, nicht immer das wichtigste Ziel ist. Dass bereits kleine Verbesserungen im Alltag einer Tetraplegikerin oder eines Tetraplegikers viel wert sind und dass es sich dafür zu kämpfen lohnt. Denn wie die Erfolgsgeschichten zeigten, lassen sich durch hartnäckiges Training in vielen Fällen, zahlreiche kleine Verbesserungsschritte erreichen.

Prof. Dr. med. Armin Curt von der Universitätsklinik Balgrist

«Forschung ist sehr mühsam, mein Slogan lautet deshalb: Never give up!»

Prof. Dr. med. Armin Curt von der Universitätsklinik Balgrist machte den Auftakt zu den Referaten. Er sprach über den Stand der klinischen Studien und darüber, dass sich Erfolge aus präklinischen Studien nicht immer in die Realität übersetzen lassen. Als Beispiel nannte er die Stammzellenstudie, die beim Menschen noch nicht da ist, wo man sich nach den Tierstudien erhoffte. Es sind allerdings verschiedene Studien am Laufen, die die Verbesserung der Ausheilung von Nerven thematisieren. Im Zentrum stehen Fragen wie: Können sich die Nerven erholen? Was brauchen sie, damit sich die Erholung einstellt. Studienerfolge konnte er keine aktuellen präsentieren. Eine Studie wird allerdings demnächst abgeschlossen. Wir können gespannt sein.

Dr. Ursina Arnet von der Schweizer Paraplegiker-Forschung

«Wenn die Muskeln überbelastet werden, kann es zu Ermüdungen kommen und es kommt zu Verletzungen.»

Curts Nachrednerin Dr. Ursina Arnet von der Schweizer Paraplegiker-Forschung sprach über die verstärkte Beanspruchung der Schulter bei Rollstuhlfahrer*innen. In verschiedenen Studien untersuchte sie, wie gross die Belastung der Schulter im Alltag ist und wie sie verringert werden kann. Sie präsentierte ihre Forschungsresultate, die aufzeigen, welche Aktivitäten die höchsten Schulterbelastungen haben. Ein Thema, das viele der rund 50 Betroffenen im Raum, gut kannten.

Prof. Dr. Robert Riener, ETH Zürich und Universitätsklinik Balgrist

«Die meisten Patienten sind 90% der Zeit inaktiv. Wie können sie zur Bewegung motiviert werden?»

Auch bei Prof. Dr. Robert Riener von der ETH Zürich stand die Bewegung im Zentrum. Er startete seinen Vortrag mit der Frage, wie viele Strampelbewegungen ein Baby pro Tag macht: rund 26'000. Im Gegenteil dazu sind Patient*innen nach einer Rückenmarksverletzung oder einem Schlaganfall 90% der Zeit inaktiv. Seine Forschungsarbeit ist deshalb dem Thema gewidmet, wie diese Patient*innen zur Bewegung motiviert werden können. Er stellte verschiedene Methoden vor und fokussierte schlussendlich auf Softexoskeletten, mit den Personen mit inkompletten Lähmungen schneller und weiter laufen können und sich dadurch mehr bewegen.

Prof. Ing. Sebastian Tobler & Dr. Edeny Baaklini, SCI-Mobility Labor, BFH

«Was ich als Tetraplegiker im Training lerne, möchte ich weitergeben an weitere Betroffene.»

Dass Bewegung nicht nur zu mehr Freiheiten und Autonomie führt, sondern auch zu kleineren oder sogar grösseren Verbesserung, zeigte Prof. Sebastian Tobler gemeinsam mit Edeny Baaklini auf. Sebastian Tobler ist selbst Tetraplegiker mit einer inkompletten Lähmung. Als Leiter des SCI-Mobility Labors der Berner Fachhochschule initiierte er die Tagung. In seinem Team arbeitet Dr. Edeny Baaklini, die Physiotherapeutin ist und über einen Doktor in Neurowissenschaften verfügt. Gemeinsam starten sie ab 2024 eine Pilotstudie, in der sie herausfinden möchten, ob die Trainingserfolge von Sebastian Tobler ein Einzelfall sind oder ob es auch bei anderen funktionieren könnte. Durch hartnäckiges Training kann Sebastian Tobler heute wieder stehen und über kürzere Distanzen sogar wieder gehen. Sein Körper konnte sich also gewisse Funktionen wieder erarbeiten. Mit der Tagung möchte er anderen Betroffenen einen Einblick in die Forschung geben. Mit der Studie möchte er auch seine eigenen Erfahrungen mit dem Trainingund innovativen Geräten teilen.

Dr. Ines Bersch, Physiotherapist, PhD Medical Science, FES Centre®

«Durch Stimulation können viele Beschwerden gelindert werden.»

Dass es in der Forschung nicht immer nur darum geht, wieder gehen zu lernen, zeigte der Vortrag von Dr. Ines Bersch. Sie erreicht durch direkte Muskelstimulation viele positive Effekte auf Darmmanagement, Druckverletzungen oder Muskelstruktur. Anhand von Erfolgsgeschichten zeigte sie auf, wie Funktionen, die noch schlummern, durch die Stimulation wieder geweckt werden können. In einem der gezeigten Beispiele, konnte sich ein Patient zum Beispiel das Hemd wieder selbst zuknöpfen.

Dr. Leonie Asboth, Leiterin der klinischen Abteilung bei NeuroRestore

«Um die Stimulation über Gedanken zu steuern, ist viel Training notwendig.»

Zum Abschluss der Veranstaltung zeigte Dr. Leonie Asboth, von Neurorestore, wie durch ein Implantat im Hirn, die Stimulation des Rückenmarks über Gedanken gesteuert werden kann. Neurorestore ist ein Zentrum, das von der EPFL und dem Universitätsspital Lausanne gegründet wurde und nach neuen Behandlungsmethoden für Rückenmarksverletzungen und nach Heilungsmöglichkeiten sucht. Um mit dieser Methode zu gehen, ist viel Training notwendig. Interessanterweise sind durch das Training aber Funktionserweiterungen sichtbar, auch wenn nicht stimuliert wird. Die Studie ist angelaufen. Bis die Methode breit eingesetzt werden kann, wird es aber noch lange dauern.

Prof. Dr. Ursula Hofstötter, Medical University of Vienna

«Gemeinsam können wir Funktionen erhöhen, ein kleiner Baustein um den anderen.»

Auch Prof. Dr. Ursula Hofstötter von der Medical University of Vienna sprach über Stimulation. In ihrem Falle aber über die nicht-invasive Rückenmarkstimulation. Wie auch ihre Vorredner*innen betonte sie die individuell stark unterschiedlichen Erkrankungsformen und dass die Therapieform immer auch individuell angepasst werden muss. Durch die Rückenmarkstimulation können aber in kleinen Schritten gezielt Funktionen erhöht werden und eine Verbesserung des Alltags der betroffenen Personen erreicht werden.

Prof. Dr. Karen Minassian von der Medical University of Vienna, der gemeinsam mit Dr. Sue Bertschy (Corporate Health Consulting) die Moderation der Veranstaltung machte, zog zum Schluss der Veranstaltung folgende Schlüsse: Die biologische Heilung ist nicht trivial, es gibt noch viele Hindernisse. Doch weltweit arbeiten verschiedene Gruppen an Lösungen für diese. Die Tagung hat gezeigt, dass es viele Methoden gibt, den Alltag von Betroffenen zu verbessern. Die Herausforderung aber bleibt, wie diese Therapien in die Kliniken gelangen. Und damit auch einen Mehrwert für die Betroffenen erzielt werden kann.

 

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