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Care@home: «Zu Gast bei Patient*innen»
06.03.2025 Die Pflege könnte sich in den nächsten Jahren radikal verändern. Die Expertinnen Friederike J.S. Thilo, Kerstin Denecke und Manuela Grieser besprechen, welche Rolle Weiterbildung bei diesem Wandel spielen kann.
Das Wichtigste in Kürze
- Care@home verspricht die Pflege und Betreuung von Patient*innen mit akuten Erkrankungen bei sich zu Hause anstatt im Spital.
- Der Ansatz bezieht Patient*innen und Angehörige stärker in ihre Versorgung mit ein.
- Gleichzeitig erfordert er neue Kompetenzen von Gesundheitsfachpersonen.
- Die BFH unterstützt diesen Wandel mit Forschung, Erarbeitung von Grundlagen und passenden Aus- und Weiterbildungen.
Was wird sich für Pflegefachpersonen oder für Medizininformatiker*innen bei der Care@home ändern?
Thilo: Der Care@home-Ansatz will Spitaleinweisungen bei akuter Erkrankung vermeiden. Dies erfordert eine neue Flexibilität und Verfügbarkeit für die Pflegefachpersonen und Ärzt*innen. Ausserdem erweitern digitale Werkzeuge, im Labor, bei der Diagnostik, Telekonsultation oder beim Monitoring von Vitalzeichen, das Handlungsspektrum der Pflegefachpersonen.
Grieser: Eine zentrale Veränderung für Pflegefachpersonen ist die erhöhte Eigenverantwortung: Pflegefachpersonen arbeiten oft selbstständig, müssen komplexe Situationen schnell erfassen und therapeutische Entscheidungen treffen und diese im interprofessionellen Team kompetent kommunizieren. Dies erfordert erweiterte klinische und therapeutische Fähigkeiten, um sicher und selbstbewusst agieren zu können. Sie müssen mit dem Netzwerk rund um die Patient*innen zusammenarbeiten. Das geht weit über pflegerische Tätigkeiten hinaus.
Denecke: Gleichzeitig werden Sensoren Anwendung finden, die kontinuierlich Daten erheben und so den Gesundheitszustand von Personen überwachen können. In diesem Kontext wird der Umgang mit Daten eine grosse Herausforderung. Wie erkenne ich in Datenmengen ein Gesundheitsrisiko? Dafür müssen Algorithmen entwickelt werden, die Notfälle oder negative Entwicklungen in der Gesundheit erkennen und darauf hinweisen können.
Betreute Personen werden stärker mit Technologie umgehen müssen.
Was wird sich für betreute Personen ändern?
Grieser: Für betreute Personen bedeutet der Care@home-Ansatz vor allem, dass sie in ihrer gewohnten Umgebung bleiben und dort versorgt werden können. Dies kann mehr Autonomie und Wohlbefinden bedeuten, bringt aber auch neue Herausforderungen mit sich.
Denecke: Beispielsweise werden betreute Personen sicher noch stärker mit Technologie umgehen müssen, wie beispielsweise zum Management ihrer Gesundheit. Dafür müssen sie geschult werden.
Grieser: Der Umgang mit Technologien – zum Beispiel mit Datensicherheit und Dokumentation – wird in der Tat eine grössere Rolle spielen, aber ebenso die Fähigkeit, sich selbst und den eigenen Körper gut wahrzunehmen. Patient*innen werden in unsicheren Momenten selbstständig agieren müssen – möglicherweise mit Anleitung, aber oft ohne sofortige professionelle Unterstützung. Auch für Angehörige verändert sich die Situation: Sie geben ihre Liebsten nicht einfach «gesorgt» in ein Spital ab, sondern tragen aktiv Verantwortung für die Betreuung. Dieses Mehr an Verantwortung wird nicht allen entsprechen.
Thilo: Genau, deswegen muss Care@home freiwillig bleiben und von ärztlicher und pflegerischer Seite genehmigt werden. Das Umdenken lohnt sich aber für betreute Personen, denn sie erleiden zu Hause weniger Komplikationen, wie z.B. Infektionen oder Delir, haben oft einen besseren Appetit, genesen schneller und bleiben selbständiger, wie wir aus internationalen Studien wissen.
Die Interviewten

Prof. Dr. Kerstin Denecke: Arbeitet als Co-Lead des Institute Patient-centered Digital Health an der Entwicklung und dem Einsatz neuer Technologien im Gesundheitswesen.
Prof. Dr. Friederike J.S. Thilo: Setzt sich als Co-Leiterin des Swiss Center for Care@home intensiv mit der Professionsentwicklung der Gesundheitsfachpersonen in Care@home-Modellen auseinander.
Manuela Grieser: Ist diplomierte Pflegefachperson (RN) und verfügt über einen Masterabschluss (MA). Als Leiterin Pflege an der BFH verantwortet sie die strategische und inhaltliche Entwicklung von Aus- und Weiterbildungsformaten im pflegerischen Bereich. Ihr Fokus liegt auf innovativen Bildungsangeboten, die aktuelle fachliche und praxisrelevante Entwicklungen aufgreifen.
Wo sehen Sie Schwierigkeiten bei der Entwicklung von Care@home?
Grieser: Schwierig ist Care@home, weil wir mit dem Konzept ein neues Selbstverständnis fördern müssen, in dem Menschen sich wieder als kompetente Wesen wahrnehmen: Menschen müssen in der Lage sein, Herausforderungen eigenständig zu bewältigen, richtige Entscheidungen zu treffen und nur gezielt Unterstützung durch Fachpersonen in Anspruch zu nehmen. Der Umgang mit der eigenen Unsicherheit wird hier eine zentrale Rolle spielen.
Der Einbezug der Patient*innen sowie deren Zugehörigen wird intensiver.
Welche (neuen) Skills braucht es bei der Care@home?
Thilo: Welche Skills Gesundheitsfachpersonen in der Care@home benötigen, wissen wir noch nicht abschliessend. Ich gehe aber von neuen Rollen aus, die sich spezialisiert mit interprofessioneller Zusammenarbeit, dem Einsatz von Technik und Daten oder der Versorgung von spezifischen Patient*innengruppen beschäftigen. Sicher ist, dass der Einbezug der Patient*innen sowie deren Zugehörigen intensiver wird. Denn bei der Care@home sind die Gesundheitsfachpersonen zu Gast bei den Patient*innen.
Denecke: Wir müssen bei der Care@home neue Wege finden, Risiken für die Patient*innensicherheit zu identifizieren und zu managen. Das Krisenmanagement, rechtliche und ethische Fragestellungen werden eine grössere Rolle spielen und entsprechende Fähigkeiten in der Bewertung von Versorgungssituationen erfordern.
Grieser: Pflegefachpersonen im Care@home-Kontext sind auf ein noch breiteres Wissen angewiesen und arbeiten selbstständiger. Sie werden im Umgang mit Patient*innen und mit technologischen Hilfsmitteln weiter geschult werden müssen. Sie müssen Fähigkeiten wie Selbstbewusstsein, Werteorientierung, Prozessverständnis, therapeutisches Denken und Handeln, Achtsamkeitsbasierung, therapeutische Resonanz und Selbstregulierung mitbringen.
Welche Skills erfordert Care@home?
Welche Skills Fachkräfte benötigen, um im Care@home-Alltag bestehen zu können, ist noch nicht abschliessend geklärt. Erste Erkenntnisse deuten aber darauf hin, dass folgende Fähigkeiten eine Rolle spielen werden:
- Generalistisches Wissen: Fachkräfte müssen sich mit einer breiten Palette an Erkrankungen und Gesundheitsproblemen auskennen, da sie nicht in einem spezialisierten Umfeld arbeiten. Ausserdem müssen sie sich technische Skills aneignen und eine Sensibilität für den Umgang mit Daten zu entwickeln (Data Literacy).
- Frühwarnzeichen erkennen: Die Fähigkeit, subtile Symptome und Krisenanzeichen frühzeitig zu identifizieren, da im häuslichen Setting weniger engmaschige Überwachung möglich ist.
- Notfälle im häuslichen Umfeld managen: Wissen, wie akute Krisensituationen zu Hause bewältigt und geeignete Interventionen eingeleitet werden.
- Therapeutische Fähigkeiten erweitern: Fachpersonen müssen therapeutische Ansätze aus Bereichen wie der systemischen Therapie, Open Dialogue oder Krisenintervention beherrschen, um die Patient*innen auch emotional und psychologisch gut begleiten zu können.
- Selbstständiger handeln: Da Fachpersonen oft allein unterwegs sind, müssen sie sicher und schnell klinische Entscheidungen treffen können. Da die Arbeit mobil ist, braucht es gute Planungs- und Priorisierungsfähigkeiten.
- Situationen analysieren und priorisieren: Einschätzen, welche Massnahmen sofort nötig sind und welche auf spätere interdisziplinäre Abstimmungen warten können.
- Umgang mit Unsicherheit bei sich und bei Betroffenen und Angehörigen.
- Gemeinsam entscheiden: Patient*innen sollen aktiv in Entscheidungen einbezogen werden. Das bedeutet, Informationen klar und verständlich zu vermitteln und gemeinsam Lösungen zu finden.
- Kommunizieren: Den Einbezug der Familie und des sozialen Umfelds professionell gestalten, um Patient*innen bestmöglich zu unterstützen, ohne Angehörige zu überfordern.
- Patient*innen coachen: Patient*innen und Angehörige dabei unterstützen, selbst Verantwortung für Gesundheit und Krisenbewältigung zu übernehmen (z. B. Schulung in Frühwarnzeichen, Medikamentenmanagement, psychischem & somatischem Krisenmanagement). Patient*innen können durch Apps oder tragbare Sensoren unterstützt werden – Fachkräfte müssen diese Technologien verstehen und Patient*innen darin schulen.
- Vernetzen: Die Fähigkeit, mit verschiedenen Akteurinnen (Hausärzte, Psychiaterinnen, ÄrztInnen, Sozialarbeit, Pflege, Peers, Gemeindeorganisationen) zu kooperieren.
- Systemisch Denken: Verstehen, dass Patient*innen in komplexe soziale, psychische und physische Kontexte eingebettet sind – Interventionen müssen ganzheitlich betrachtet werden.
- Mobil dokumentieren: Pflegedokumentation muss effizient, sicher sein.
- Telemedizinisch arbeiten: Fähigkeit, mit Video- und Telekonsultationen zu arbeiten und digitale Kommunikationsmittel sinnvoll zu integrieren.
- Lernbereit bleiben: Fachkräfte müssen sich ihrer eigenen Grenzen bewusst sein und regelmässig Austausch suchen sowie Techniken der kollegialen Beratung nutzen.
Welchen konkreten Beitrag können wir als Hochschule in der Schweiz leisten?
Denecke: In Netzwerken, wie es das Swiss Center for Care@home aufbaut, können Erfolgsmodelle oder Leitlinien erarbeitet werden. Hier kann der Austausch von Wissen und Ressourcen gefördert werden. Wir können auch innovative Technologien und Plattformen entwickeln, die die Versorgung im häuslichen Umfeld unterstützen.
Grieser: Um Fachkräfte und freiwillig Betreuende gezielt auf die Herausforderungen von Care@home vorzubereiten, braucht es darüber hinaus innovative Lernmethoden. Unsere Weiterbildungen tun dies und fördern den interprofessionellen Charakter und das partizipative Handeln der Zielgruppen und versuchen, wann immer möglich, auch Angehörige und Betroffene einzubinden.
Thilo: Am Swiss Center for Care@home haben wir damit begonnen, den Weiterbildungsbedarf und benötigte -angebote empirisch zu untersuchen. Wir müssen etwa besser verstehen, welche Bildungsformate bevorzugt werden. Wir möchten herausfinden, welche Inhalte sich für die Vermittlung an einer Hochschule eignen, und was in der begleiteten Praxis vermittelt und perfektioniert werden muss. Basierend auf den Ergebnissen können wir dann neue Angebote für Care@home entwickeln.