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Das Gesundheitswesen auf dem OP-Tisch – Visionen und Widersprüche

14.03.2025 Steigende Kosten, Fachkräftemangel, Bürokratie – das Gesundheitsweisen steht vor grossen Herausforderungen. Wie kann die Zukunft aussehen? Nicolas Hermann vom Stapferhaus in Lenzburg spricht über die aktuelle Ausstellung «Hauptsache gesund», die Widersprüche aufzeigt, Visionen vorstellt zur Diskussion einlädt.

Das Wichtigste in Kürze

  • Das Stapferhaus in Lenzburg thematisiert in der aktuellen Ausstellung «Hauptsache gesund. Eine Ausstellung mit Nebenwirkung» die gewichtigen Fragen im Gesundheitswesen.

  • Die Ausstellung präsentiert die Herausforderungen, zeigt aber auch Lösungsansätze auf.  

  • Nicolas Hermann vom Stapferhaus gibt Auskunft über die wichtigsten Erkenntnisse.

Alternativtext
Im Stapferhaus liegt das Gesundheitswesen als Patientin auf dem OP-Tisch. Die Besucher*innen entscheiden über die Behandlung. Bild: Anita Affentranger

«Hauptsache gesund. Eine Ausstellung mit Nebenwirkungen.» – Warum dieser Titel?

Nicolas Hermann: Wir möchten die vielen Widersprüchlichkeiten antönen, die es zu diskutieren, aber auch auszuhalten gilt, wenn wir über Gesundheit sprechen. Gesundheit wird in unserer Gesellschaft ein immer wichtigeres Gut, manche sprechen auch vom einzig unhinterfragt positiven Wert unserer Zeit oder von einem «Megatrend». Das hat sicher viele positive Auswirkungen, doch bringt es auch Nebenwirkungen mit sich. So nimmt der Druck auf das Individuum zu, gesund sein zu müssen, und es stellt sich die Frage nach der Solidarität mit Menschen, die unter einer Krankheit leiden oder keinen gesunden Lebensstil pflegen wollen oder können. Unsere Ausstellung bietet Raum, über solche Fragen – aber auch über das eigene Gesundheitsverständnis – nachzudenken. 
 

In der Ausstellung zeigen Sie Ideen für neue Wege im Gesundheitswesen. Wieso?

Während unserer Recherchen hörten wir immer wieder, wie festgefahren die Gesundheitspolitik seit Jahren sei, dass es mehr um wirtschaftliche Interessen einzelner Akteur*innen und um Kostendiskussionen gehe und weniger um Werte und Visionen. Uns schien es deshalb sinnvoll, solchen Visionen eine Plattform zu geben und den Besucher*innen zu vermitteln, dass es in der Gesundheitspolitik um Fragen geht, die alle betreffen, zum Beispiel: Wie viel Profit darf mit Gesundheit gemacht werden? Soll unser Gesundheitssystem den Fokus mehr auf Gesundheit statt auf Krankheit legen? Wie viel Zwischenmenschlichkeit braucht es in der Medizin? Über solche Fragen braucht es mehr öffentliche Diskussion.

«Das Gesundheitswesen gehört zu den grössten Sorgen der Bevölkerung. Es schien uns deshalb passend, die Zukunft des Gesundheitswesens in einem Notfallraum auf den OP-Tisch zu legen.»

  • Nicolas Hermann Recherche, Konzeption, Projektleitung Stapferhaus

Sie präsentieren neun Visionen zur Zukunft des Gesundheitswesens in einem OP-Saal und lassen die Besucher*innen über die Behandlung abstimmen. Wie kam die Idee?

Das Gesundheitswesen gehört zu den grössten Sorgen der Bevölkerung. Fachpersonen warnen vor Versorgungsengpässen und Fachkräftemangel, die die Qualität unseres Systems aufs Spiel setzen. Es schien uns deshalb passend, die Zukunft des Gesundheitswesens in einem Notfallraum auf den OP-Tisch zu legen, in dem eine dringliche Atmosphäre herrscht und die Besucher*innen zum aktiven Teil des OP-Teams werden, indem sie abstimmen. Neben den Pro-Argumenten lassen wir auch kritische Stimmen zu Wort kommen. Wir wollen zeigen, dass es zu jeder Idee auch bedenkenswerte Einwände gibt. Das Gesundheitswesen ist komplex. Unser Ziel war es, dass Vision und Gegenstimme ein Spannungsfeld eröffnen, in dem man Stellung beziehen kann.

Gab es Visionen, die Sie nicht aufgenommen haben? Falls ja, warum?

Es gibt noch viele weitere Ideen für das Gesundheitswesen der Zukunft – die Auswahl fiel uns nicht leicht. Ein Kriterium war z. B., dass Menschen ohne Fachkenntnisse  leicht Anknüpfungspunkte finden und dass den Vorschlägen spannende Wertefragen zugrunde liegen. Deshalb haben wir uns gegen voraussetzungsreiche «innermedizinische» Vorschläge wie beispielsweise ein neues Tarifsystem entschieden.
 

«Stand Ende Februar verzeichnet der Vorschlag, die Bürokratie im Gesundheitswesen radikal abzubauen, die höchste Zustimmungsrate, gefolgt von der Forderung, mehr Geld in medizinisches Personal zu investieren.»

  • Nicolas Hermann Recherche, Konzeption, Projektleitung Stapferhaus

Welche Idee hat Sie persönlich am meisten überrascht oder vielleicht sogar inspiriert?

Ich hatte mehrere Aha-Momente: Mir war beispielsweise vorher nicht richtig bewusst, dass die Schweizer Kopfprämien und die hohen Selbstbehalte international einzigartig sind und dass es kaum Staaten gibt, in deren Gesundheitswesen weniger Umverteilung stattfindet. Auch die Gegenargumente haben mich immer wieder überrascht – etwa zur Idee, Bürokratie abzubauen und dem Gesundheitsfachpersonal mehr Vertrauen zu schenken. Auf den ersten Blick spricht wenig dagegen. Doch dann merkten wir, dass sich ein spannender Diskussionsraum öffnet, wenn man aus Sicht der Patient*innensicherheit darüber nachdenkt. 
 

Alle Videos auf einen Blick

Auf der Website gesundheitssystem.stapferhaus.ch sind alle neun Visionen und Gegenstimmen aus der Ausstellung versammelt. 

Gibt es bereits erste Trends zu den Abstimmungen?

Stand Ende Februar verzeichnet der Vorschlag, die Bürokratie im Gesundheitswesen radikal abzubauen, die höchste Zustimmungsrate, gefolgt von der Forderung, mehr Geld in medizinisches Personal zu investieren. Interessant ist, dass alle neun Vorschläge aktuell Zustimmungsraten von fast 50 Prozent erzielen. 

«Ich hoffe, dass die Ausstellung zur öffentlichen Diskussion über Werte im Gesundheitswesen beiträgt.»

  • Nicolas Hermann Recherche, Konzeption, Projektleitung Stapferhaus

Wie möchten Sie mit der Ausstellung insgesamt die Diskussion über die Zukunft des Gesundheitswesens anregen, und gibt es Pläne für weiterführende Projekte? 

Indem wir den Besucher*innen vermitteln, was alles mitspielt, wenn wir über Gesundheit diskutieren und sie dazu anregen, sich selbst zu positionieren. Neben der Ausstellung gibt es eine Publikation und ein vielfältiges Veranstaltungsprogramm. Ausserdem prüfen wir, ob Teile der Ausstellung auch an anderen Orten gezeigt werden können. Im Hinblick auf den Notfallraum denken wir darüber nach, die Visionen digital zugänglich zu machen und mit neuen Ideen zu ergänzen. Ebenfalls evaluieren wir zurzeit, was wir mit den Abstimmungsresultaten machen. Denn auch wenn sie nicht repräsentativ sind, können sie eine spannende Diskussionsgrundlage bieten. Über Inputs freuen wir uns sehr: input@stapferhaus.ch
 

Haben Sie durch die Ausstellung neue Perspektiven gewonnen?

Ich muss zugeben: Bevor wir uns entschieden haben, eine Ausstellung zum Thema Gesundheit zu machen, habe ich meist weitergeblättert, wenn es in der Zeitung um Gesundheitspolitik ging. Ich hielt Gesundheitspolitik für eine technokratische Debatte, die mich kaum betrifft. Doch während der Arbeit an der Ausstellung wurde mir klar, dass auch Nicht-Expert*innen eine Meinung dazu haben können. Ich hoffe, dass es unseren Besucher*innen ähnlich geht und die Ausstellung zur öffentlichen Diskussion über Werte im Gesundheitswesen beiträgt. 

Infobox: «Hauptsache gesund. Eine Ausstellung mit Nebenwirkungen» im Stapferhaus in Lenzburg 

Plakat Ausstellung «Hauptsache gesund» vom Stapferhaus in Lenzburg

«Hauptsache gesund. Eine Ausstellung mit Nebenwirkungen» im Stapferhaus Lenzburg 

Gesundheit ist das grosse Versprechen unserer Zeit. Für sie tun wir fast alles. Wir tracken und trainieren, essen Superfood und Spurenelemente. Wir vertrauen auf die neueste Forschung und setzen auf Spitzenmedizin. Mit Erfolg: wir werden so alt wie nie zuvor. Gleichzeitig stehen wir vor gewichtigen Fragen. Wie gehen wir mit Krankheit um? Wie gesund ist gesund genug? Wer ist für Gesundheit verantwortlich und wer bezahlt den Preis? Ein interaktiver Parcours, stimmungsaufhellend, rezeptfrei und ohne Überweisung.

  • Bis 26. Oktober 2025
  • Stapferhaus, direkt am Bahnhof Lenzburg
  • Dienstag bis Sonntag, 9 bis 17 Uhr
  • Die Ausstellung ist dreisprachig (D/F/E).

www.stapferhaus.ch

«Hauptsache gesund. Eine Ausstellung mit Nebenwirkungen» im Stapferhaus

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