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«Verlässlichkeit schafft Sicherheit»: Jugendtreff als Rückzugsort in «real Bümpliz»
10.02.2025 Jeden Freitag von 19 bis 23 Uhr öffnet im Kleefeld der Treff Speedy für die Jugendlichen in Bern-Bümpliz. Was braucht diese Art von Jugendarbeit? Was kann sie bewirken? Dies erfragten wir bei einer Leiterin des Treffs, Marleen Gerhold, und einer Vertreterin der Interessengemeinschaft Kleefeld, Houwayda Schöni.
Das Wichtigste in Kürze
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Im Interview erzählen Jugendarbeiterin Marleen Gerhold und Quartierbewohnerin Houwayda Schöni, wie sie den Jugendtreff «Speedy» zu einem wichtigen Ort für die Jugend im Quartier gemacht haben.
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Klare Regeln und Engagement bauen Vertrauen auf und schaffen Struktur und Sicherheit für alle Beteiligten.
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Jugendliche beantworten selbst, warum das Speedy für sie so wichtig ist und was sie im Treff erleben.
Bei der Quartiersbegehung von Regierungsrat Philippe Müller im September 2023 wurde der Bedarf nach einem Jugendtreff geäussert. Wie kam es danach so rasch zur Eröffnung des Speedy?
Marleen Gerhold: Es gab den Jugendtreff Speedy im Kleefeld schon früher. Die Infrastruktur war vorhanden, und mit der reformierten Kirche gab es auch eine Trägerschaft. Der Treff war seit einem Jahr geschlossen und musste renoviert werden, was wir gemeinsam mit den Jugendlichen gemacht haben. Das Speedy konnte so schnell wiedereröffnet werden, weil das Interesse und das Engagement der Quartierbewohner*innen so gross war. Doch es gehört auch zur Geschichte des Treffs, dass er geschlossen werden musste, weil es zu viele Konflikte gab.
Unsere Interviewpartnerinnen kurz vorgestellt
Marleen Gerhold ...
... ist seit zwei Jahren als Kinder- und Jugendarbeiterin der Kirchgemeinde Bümpliz in Co-Leitung für den Jugendtreff Speedy verantwortlich. Sie absolvierte 2020 den Bachelor Soziale Arbeit an der Fachhochschule Frankfurt am Main und studiert im Master Soziale Arbeit an der BFH.
Houwayda Schöni ...
... arbeitet als Freiwillige des Quartiers Kleefeld im Jugendtreff Speedy und wird dabei von zwei weiteren engagierten Quartierbewohnenden unterstützt. Alle sind Vertreter*innen des Quartiervereins Interessengemeinschaft (IG) Kleefeld. Dieses Engagement leistet die dreifache Mutter neben ihrer Vollzeitstelle als Camionfahrerin.
Das Interview führte Katalin Szabó im Oktober 2024.
Welcher Art waren diese Konflikte?
Gerhold: Die Jugendlichen und ich kämpften nach einer von ständigen personellen Wechseln geprägten Zeit um die Oberhoheit im Treff. Die Situation war sehr angespannt. Jugendliche haben schon genug um die Ohren, die Schule beansprucht sie, zuhause werden sie oft stark in die Pflicht genommen. Nach meinem Eindruck sind sie mir auch deshalb mit der Einstellung begegnet: «Ich bin jemand, und ich will auch Raum einnehmen.» Meinerseits musste ich ihnen erst einmal beweisen, warum ich als für sie noch Fremde das Recht habe, über diesen Raum zu bestimmen. Sie sagten zu mir: «Sie müssen lernen, dass Bümpliz hart ist.» Inzwischen stehen wir an einem anderen Punkt: Heute können wir gemeinsam Konflikte austragen; das wird immer besser – da bin ich echt stolz auf die Jugendlichen und auf mich.
Sicher kann ich sagen: Sie fühlen sich hier zuhause. Der Treff ist wichtig in ihrem Alltag und bei ihrer Suche nach Identität.
![Marleen Gerhold](/.imaging/mte/bfh-theme/partner-logo-xxs/dam/bfh.ch/departementsinhalte/soziale-arbeit/storys/2025/DSC00479.jpg/jcr:content/DSC00479.jpg)
![Houwayda Schöni, Quartiersverein Kleefeld, Bern-Bümpliz](/.imaging/mte/bfh-theme/image-and-gallery-xxs/dam/bfh.ch/departementsinhalte/soziale-arbeit/storys/2025/DSC00763.jpg/jcr:content/DSC00763.jpg)
Wie haben Sie die Bedürfnisse der Jugendlichen ermittelt?
Gerhold: Die Arbeit mit den Jugendlichen hat vor der Eröffnung des Speedy auf der Strasse stattgefunden. Ich war viel im Quartier unterwegs, habe sie kennengelernt und reflektiert, was ihre wirklichen Bedürfnisse sind. Vor der Eröffnung des Treffs im Februar haben wir mit der IG Kleefeld zwei Workshops gemacht: Was sind Ziele der Jugendarbeit hier im Kleefeld? Wie wollen wir den Jugendlichen begegnen? Welche Haltung wollen wir im Quartier zeigen?
Welche Rolle spielte der Einbezug der Anwohner*innen bei der Wiedereröffnung?
Houwayda Schöni: Wir von der IG Kleefeld haben uns schon lange dafür eingesetzt, dass der Jugendtreff wieder geöffnet wird. Wir haben klargemacht, dass wir Freiwillige für das Speedy zur Verfügung stellen können, die jetzt hier auch jede Woche mithelfen. Wir haben mit den Verantwortlichen verhandelt, sie bearbeitet, bestehende Hürden und Blockaden aufzulösen, viel erzählt und erklärt. Die Jugendarbeiter*innen sind «armi Cheibe». Sie kennen das Quartier und die Jugendlichen kaum. Die Eltern noch viel weniger. Ich als Quartierbewohnerin kenne die Jugendlichen zum Teil schon, seit sie Babys sind. Sie sind Nachbarn, Freunde meiner Kinder und Kinder meiner Freunde und Freundinnen. Das ist auch im Alltag des Treffs wichtig. Auf mich hören sie, weil ich ihr Umfeld kenne.
Gerhold: Für mich war das ungewohnt. Ich kenne Jugendarbeit als Raum, in dem Eltern als soziale Kontrolle nicht präsent sind. Der Treff hatte auch ein offenes Konzept. Im Speedy hat dann die Partizipation von Quartierbewohnenden allerdings sehr geholfen. Zusammen konnten wir besser auf den Bedarf der Jugendlichen nach Verlässlichkeit, Orientierung und Struktur reagieren. Sie haben in der Zeit der Pandemie fehlende Verlässlichkeit erlebt, und es war schwer, ihr Vertrauen im offenen Treff zu gewinnen. Ich musste den Mut haben, dieses neue Konzept hier am Standort Kleefeld auszuprobieren. Schlussendlich bin ich sehr dankbar für das grosse Engagement der IG Kleefeld. Hierdurch war es allen Beteiligten möglich, wieder miteinander in Beziehung zu kommen.
![Marleen Gerhold, Kinder- und Jugendarbeiterin der Kirchgemeinde Bümpliz und Co-Leiterin des Jugendtreffs Speedy](/.imaging/mte/bfh-theme/image-and-gallery-xxs/dam/bfh.ch/departementsinhalte/soziale-arbeit/storys/2025/DSC00548.jpg/jcr:content/DSC00548.jpg)
Ist es wichtig, dass der Treff in Bümpliz ist?
Gerhold: Ich finde es wichtig, dass die Jugendlichen einen Treffpunkt in dem Quartier haben, in dem sie wohnen. Sie haben eine Verbindung zum Quartier und sollen diese auch ausleben und reflektieren dürfen. Als Jugendarbeiterin muss ich mich damit auseinandersetzen, was für sie die Identität von Bümpliz ist und was das für unseren Treff bedeutet. Sicher kann ich sagen: Sie fühlen sich hier zuhause. Der Treff ist wichtig in ihrem Alltag und bei ihrer Suche nach Identität.
Schöni: Es gibt auch einen Treff zwei Tramstationen von hier, über den meine Söhne sagen: Da gehen wir nicht hin, das ist nicht Bümpliz. Das Speedy ist ein wichtiger Anlaufpunkt im Quartier, damit sie nicht irgendwo rumhängen. Im Kleefeld gibt es viele grosse Familien in kleinen Wohnungen. Manchmal schlafen drei bis vier Kinder in einem Zimmer. Da kann es einem schnell zu viel werden. Hier bietet der Treff einen Rückzugsraum. Das ist sehr wichtig – noch mehr in der Winterzeit. Die Jugendlichen haben hier einen Raum für sich, in dem sie nichts machen müssen, aber vieles machen können. Im Kleefeld ist es der einzige Ort, an dem sie selbst bestimmen können. Die Jugendlichen möchten eigene Entscheidungen treffen. Das ermöglichen wir ihnen. Deshalb möchten wir auch gern mehr Tage und mehr Zeiten anbieten.
Wie sieht es heute mit dem Thema Sicherheit aus im Treff?
Gerhold: Seit der Neueröffnung gilt: Wer rein will, gibt beim ersten Besuch seinen Namen und sein Alter an. Wir lassen uns das anhand eines Dokuments, das sie selbst auswählen dürfen, nachweisen. Das Sammeln von Daten ist wieder untypisch für mich gewesen, und es braucht einen guten Grund. Unsere Erfahrung hier hat gezeigt, dass damit jedoch auf beiden Seiten Verlässlichkeit gefördert werden kann. Das scheinen die Jugendlichen zu schätzen. «Ich bin eingetragen, ich darf ‹offiziell› hier sein, ich muss nicht mehr darum kämpfen.» Mit diesem Aufnahmeritual können wir Jugendliche auch willkommen heissen, ihnen den Raum zeigen und die Regeln erklären. Dies gibt ihnen die Möglichkeit, Verantwortung für sich selbst und «ihren» Treff zu übernehmen. Wir versuchen, Handlungsfähigkeit und Bewusstheit zu fördern. «Ich sehe Dich, Du siehst mich» ist die klare Botschaft, die wir uns gegenseitig an der Trefftür vermitteln, Woche für Woche. Verlässlichkeit auf beiden Seiten schafft Sicherheit.
Schöni: Den Jugendlichen gibt es auch Sicherheit, dass immer dieselben Bezugspersonen im Treff ansprechbar sind. Unsere Heranwachsenden brauchen diese Verlässlichkeit.
Gerhold: Die Regeln im Treff sind einfach und klar. Eine der wichtigsten Regeln bei uns lautet: «Ich treffe meine eigenen Entscheidungen.» Das bedeutet: Gehe ich auf eine Provokation anderer Jugendlicher ein oder nicht, möchte ich im Treff bleiben oder nicht? Wir sind seit dem Engagement der IG genug Ansprech- und Bezugspersonen, um Jugendliche im Treffbetrieb zu unterstützen.
Dialog leben: Broschüre Sicherheitsperspektiven mit Fokus auf Jugendliche
Das hier abgedruckte Interview ist Teil der Publikation «Sicherheitsperspektiven», die BFH-Dozentin Emanuela Chiapparini im Auftrag des Berner Regierungsrats Philippe Müller realisiert hat. Sie entstand aus einer gleichnamigen Veranstaltungsreihe, die die Sicherheitsdirektion des Kantons Bern gemeinsam mit der BFH in den Jahren 2023 und 2024 durchgeführt hat. Die Broschüre können Sie hier bestellen.
Wohin entwickelt sich der Jugendtreff? Wie sieht er in zehn Jahren aus?
Schöni: Ich hoffe, dass wir irgendwann einmal das nötige Geld haben, um den Discoraum wieder zu öffnen. Das ist uns ein grosses Anliegen. Früher war er jeden Samstag geöffnet, und die Speedy-Disco war im Quartier sehr beliebt. Aus finanziellen Gründen verschwinden immer wieder Angebote, wie eben der Discoraum, aber Räume für Jugendliche dürfen nicht verschwinden. Es ist ein armes Quartier. Es gibt viele Familien, denen es nicht möglich ist, dass jedes Kind einem Hobby nachgehen kann. Deshalb ist es umso nötiger, Gratisangebote zu ermöglichen. Wir haben hier auch Familien mit Asylstatus, die das Land nie verlassen können. Sie sind sieben Tage, 24 Stunden im Quartier. Das gibt einfach Konflikte. Da brauchen die Jugendlichen einen Fluchtpunkt.
Gerhold: Ich hoffe schlicht, dass es in zehn Jahren und darüber hinaus einen Jugendtreff im Kleefeld gibt. Es braucht einen Raum, auch in Zukunft. Ich hoffe auch, dass einige der Jugendlichen, die heute den Treff besuchen, in zehn Jahren in Lebenssituationen sind, in denen sie sich gestärkt fühlen, ihre Stimme zu nutzen und Einfluss auf den Ort zu nehmen, an dem sie wohnen. Vielleicht können die IG-Mitglieder hier im Treff dafür sogar ein Vorbild sein.
![Khalil (15 Jahre und Junior (13 Jahre) besuchen regelmässig den Jugendtreff](/.imaging/mte/bfh-theme/image-and-gallery-xxs/dam/bfh.ch/departementsinhalte/soziale-arbeit/storys/2025/DSC00671_ret.jpg/jcr:content/DSC00671_ret.jpg)
«Ich fühle mich wie zuhause»
Wir haben zwei Jugendliche, die geholfen haben, das Speedy zu renovieren und den Treff regelmässig besuchen, zu ihrer Meinung zur Einrichtung befragt.
Was findet Ihr toll am Treff?
Khalil (15 Jahre): Hier kann man einfach chillen. Wir sind völlig frei, was wir machen. Spielen, Spass haben, schlafen. Das bestimmen wir. Und wir können was mit anderen zusammen machen, wenn wir wollen. Manchmal auch streiten. Wir würden nicht in einen Treff in einem anderen Quartier gehen. Wir sind hier «real» Bümpliz.
Junior (13 Jahre): Hier im Speedy kann man alle aus Bümpliz treffen, chillig ist es. Ich fühle mich wie zuhause. Sonst können wir ja fast nirgendwo hingehen. Vor allem im Winter ist es schwierig. Wenn man hier in Bümpliz aufwächst, dann ist das manchmal einfach nicht mehr normal, einfach crazy ist das.
Ist der Treff für Euch ein sicherer Ort?
Khalil: Man kann auch eine Strafe bekommen, so was wie staubsaugen oder ähnliches, um es wieder gutzumachen.
Junior: Früher wurde hier oft «gschleglet». Das hat sich seit der Neueröffnung geändert. Jetzt werden die Ausweise kontrolliert und wenn man Ärger macht, muss man raus. Es gibt jetzt mehr Respekt. Man hält sich eher an die Regeln.
Was war Euer tollstes Erlebnis im Treff?
Khalil: Wir haben mal ein Fussballturnier veranstaltet. Dann fand ich auch toll, als wir zusammen einen Film geschaut haben.
Junior: Wir haben alle zusammen Fussball geschaut, das war chillig. Ich finde es auch gut, wenn wir alle zusammen kochen.
Was wünscht Ihr Euch vom Speedy?
Khalil: Wir wünschen längere Öffnungszeiten!
Junior: Das Speedy müsste jeden Tag offen haben.